Nordenskiöldsloppet 2022 - 200 km durch Lappland
Auswertung der Daten
Päng! Ein Schuss gellt durch die Nacht. Es ist 5:30 Uhr und ich stehe auf einem zugefrorenen See, irgendwo nördlich des Polarkreises. Es ist kalt, vielleicht minus 7 Grad, etwas Wind und langsam wird es etwas heller. Um mich herum 511 in Kondomanzügen gekleidete Langläuferinnen und Langläufer. Willkommen beim Nordenskiöldsloppet! Mit am Start: 5 Doppelstöcklerinnen und Doppelstöckler im fröhlichen Palmengewand!
Der Startschuss ist zwar gerade gefallen, aber die Geschichte beginnt viel früher, genauer genommen im Jahre 1883:
Päng minus 139 Jahre
Adolf Erik Nordenskiöld kommt von einer Polarexpedition zum grönländischen Inlandseis zurück und erzählt von einer 460 km langen Skitour in nur 57 Stunden. Zu der Zeit stehen die Skier noch vor dem Durchbruch und die Leistung wird angezweifelt. Als Beweis organisiert Nordenskiöld 1884 ein Skirennen in Nordschweden und schickt seine Skiläufer an den Start, alles Ski-gewandte Samen. Einer von ihnen, Pava-Lasse, gewinnt das Rennen dann auch in 21 Stunden und 22 Minuten. Es soll das längste Rennen der Welt sein.
Päng minus 3 Jahre
Sven kommt zu Ohren, dass oberhalb des Polarkreises, unweit des Ortes, wo er die ersten Gehversuche mit Skier an den Beinen unternahm, das längste Skirennen der Welt stattfindet (seit 2016 wird es wieder am gleichen Ort ausgetragen wie 1884). Kurzerhand meldet er sich an, reist nach Nordschweden, schnürt sich die Skier an die Füsse und läuft den ganzen Tag und die halbe Nacht bis ins Ziel in Jokkmokk. Kaum daheim, erzählte er von seinen Erlebnissen und die Augen seiner Klubkolleginnen und -kollegen wurden grösser und grösser als sie seine Geschichten hören: Start im Morgengrauen, Loipe durch die tiefe Wildnis des hohen Nordens, über zugefrorene Seen und Moore und durch lichte Wälder, am Horizont die mächtigen Berge des Sareks, Rentiere, Raststationen im Nirgendwo, mit köchelndem Kaffee auf dem Lagerfeuer, welches sich schon tief in den Schneeboden, hin zur Wärme der Erde geschmolzen hat.
Päng minus 2 Jahre
Svens Enthusiasmus ist ansteckend, für die nächste Ausgabe des Rennens melden sich vier Doppelstöckler an. Was doch so eine kleine Anmeldung auslösen kann: plötzlich werden sagenhafte Rollskitouren unternommen, Florian rollert von Uster bis nach Romanshorn ohne ein einziges Mal die Skier abziehen zu müssen. Diesmal haben wir auch gute Mediendeckung, Florian wird von Rock'n'Rollski interviewt und Red Bull, der Hauptsponsor des Rennens, schreibt mehrere Berichte: eins, zwei, drei
Das Jahr 2020 ist aber bekanntlich ein schlechtes Jahr für Grossanlässe, nach dem Vasalauf wird alles abgesagt, inklusive dem Nordenskiöldsloppet, der Ende März stattfinden sollte. Die Enttäuschung ist natürlich zu spüren, da haben sich die vier Teilnehmer über Monate intensiv auf diese Monstertour vorbereitet und nun dürfen sie nicht hin. "Dann haben wir ein Jahr mehr zum Trainieren", hört man verhalten optimistisch. Dass es dann zwei Jahre werden würden bis zur nächsten Austragung ahnt noch niemand.
Päng minus 1 Jahr
Das Rennen wird nochmals wegen Corona abgesagt. Nur die Elite darf starten, die Volksläufer*innen kriegen als Trostpflästerchen eine Strava-Challenge: lege 220 km innerhalb eines Monats zurück und gewinne einen Startplatz für das Jahr 2022 und ein paar neue Speedmax von Fischer. Zufälligerweise organisieren ein paar Kollegen genau gleichzeitig eine Dusk-til-Dawn-Challenge: Wer kann am meisten Kilometer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zurücklegen. Alle haben einen Riesenspass und sammeln zwischen 20 und 150 Kilometer in den 10-11 Stunden mit Tageslicht. Ich selber nutzte das Wochenende um zu schauen ob ich 220 km über drei Tage erreichen kann, als Test vor einer allfälligen Anmeldung.
Bald darauf erhalte ich Post, genau genommen ist es ein schmales und 207 cm langes Paket mit einem schwarz-gelben Inhalt. Die Freude ist erst riesig, doch dann wird mir klar, dass ich nicht nur Skis gewonnen habe sondern auch einen Startplatz im nächsten März. Es fühlt sich schon fast an wie eine Vorladung oder ein Einrückungsbefehl.
Für 2022 sind wir nun zu fünft, einige können nach zwei intensiven Trainingsjahren kein drittes mehr anhängen, dafür kommen neue dazu.
Der Sommer vergeht wie im Flug. Der Geist des Nordenskiölds sitzt einem im Nacken und treibt einem runter vom Sofa und auf die Rollskis und den SkiErg.
Päng minus 2 Tage
Zu dritt reisen wir mit dem Flugzeug nach Luleå in Nordschweden. Schon in Zürich treffen wir zwei andere Schweizer, die das gleiche Ziel haben. In Luleå kommt noch Sven dazu und in Jokkmokk schliesslich kommen Manu und Nathanael dazu, letzterer macht selber nicht mit, wollte sich aber den Spass nicht entgehen lassen wie wir hypperig vor Nervosität unsere Energie schon am Vortag aus den Füssen tänzelten.
Päng minus 1 Tag
Wir besichtigen die Strecke, gleiten über vereiste Seen und bekommen einen ersten Eindruck. Der Steigwachs hält auf den vereisten Aufstiegen überhaupt nicht, irgendwie ist das am Vortag des Rennens immer so. Es hat relativ wenig Schnee, auf den Seen weiter hinten hat es Oberwasser und sie entscheiden die Route zwischen Granudden und Tjåmotis etwas umzulegen und den Wendepunkt vorzuverlegen. Insgesamt wird die Strecke 20 km kürzer (200 statt 220 km), dafür hat es etwas mehr Höhenmeter.
Zurück in der Unterkunft diskutieren wir den Wachs, ich fühle wie ich mich meinem Maximalpuls nähere. Jetzt nur nicht daneben greifen... Danach packen wir die Säcke und besprechen nochmals die Strecke:
Strecke
Der Start ist wie zu Pava-Lasses Zeiten in Purkijaur, 20 km westlich von Jokkmokk. Danach führt die Loipe quer durch die nordschwedische Wildnis 90 km in den Westen, dort gibt es eine 180 Grad Kurve und alles wieder zurück bis zum Start und dann noch 20 km bis nach Jokkmokk. Zusammen also 200 km Spass und Überraschung auf Skiern.
Es gibt insgesamt 15 Verpflegungsstände mit Riegeln, Gels, Energiedrinks, Kaffee und so weiter. An drei Orten gibt es sogar warmes Essen. Und an drei Orten kann man einen Sack hintransportieren lassen um Kleider zu wechseln oder Stirnlampen zu deponieren. Die Frage ist nur, wo braucht man die Stirnlampe? Wo die warmen Handschuhe und evtl. eine Überjacke? Und wo einen Moralbooster in Form eines Snickers oder Salznüssen? Schon nach 92 km oder erst nach 142 km?
Mit Hilfe von modernster Datenanalyse (Excel und Dreisatz) berechnen wir mögliche Durchlaufzeiten und ab wann die Nacht uns mit ihrer finsteren und eisigen Umarmung beglücken wird.
Die Originalstrecke hat 1900 Höhenmeter. Das klingt nach viel doch sie sind auch auf viele Kilometer verteilt. Vergleicht man dies mit anderen populären Rennen, so hat nur der Engadiner weniger Höhenmeter.
Der Lauf!
Wecker um 2:15h (ausschlafen ist für Vasaläufer). Fahrt nach Purkijaur. Viel Schweigen. Kühl am Start. Immer noch Nacht um halb fünf, eine halbe Stunde vor dem geplanten Start wird er um eine halbe Stunde nach hinten verschoben. Ein Shuttlebus steckt in einem Schneewall und muss erst befreit werden. Also noch mehr nervöses Rumjöggerln um die Kälte aus dem Körper zu vertreiben. Dann gilt es ernst. Wir machen uns nochmals gegenseitig Mut und wir sind bereit. Drei Minuten vor dem Start geht Manus Trinkgurt kaputt. In der Startaufstellung schafft sie ihn noch mit einem Riemen zu flicken. Gleich darauf fällt der Startschuss: Päng! Das Feld setzt sich in Bewegung, nach wenigen Metern verengen sich die Spuren, bald sind es nur noch zwei Spuren, eine davon aber frischverschneit. Wir reihen uns ein, überholen ist schwierig. Sven konnte zu Beginn gleich durch das Feld nach vorne schlängeln und als im Feld weiter vorne eine Lücke aufgeht, sehe ich von hinten wie er in der ersten Gruppe ist.
Erst bei den ersten kurzen aber ruppigen Anstiegen kann ich dank meinem Steigwachs die mit den blanken Skiern überholen und habe dann irgendwann mal freie Fahrt vor mir und kann mein eigenes Tempo gehen. Nach über 20 km schliesse ich zu Sven auf und wir laufen von nun an gemeinsam. Stossen wir auf eine Gruppe, versuchen wir vorne zu laufen oder zu überholen, hinten gibt es zu viel Handorgeleffekt für meinen Geschmack. Nach 60 km muss Sven leider abreissen lassen, sein Magen macht nicht mehr mit und er muss es etwas gemütlicher angehen. Ich bin im Hoch, die Sonne scheint, endlich ist die Loipe genug hart für die Stöcke, die Landschaft ist unglaublich und ich bin nicht mehr weit vom Umkehrpunkt entfernt. Ab da laufe ich praktisch nur noch alleine. Die Abfahrt vor dem Umkehrpunkt ist überraschend steil und vorallem lang. Die ganze Zeit denke ich nur, Ai-ai-ai, dies muss ich nun gleich wieder hoch. Unten mache ich etwas länger Pause, jeden einzelnen der 90 zurückgelegten Kilometer spüre ich in meinen Knochen. Ich wachse zum ersten und einzigen Mal meine Skier neu: wenn ich schon Wachsskier habe, so will ich auch guten Grip haben in diesem langen Aufstieg. Es braucht etwas Überwindung um von diesem schönen sonnigen Rastplatz aufzubrechen, hier hat es Leute, Essen, Trinken, wahrscheinlich gäbe es auch einen gemütlichen Liegestuhl um kurz ... Schnell schnalle ich meine Skier an und bewahre mich vor dem Müssiggang. Ziemlich bald treffe ich auf Manu, die ist auch schon fast beim Umkehrpunkt. Der Aufstieg ist richtig schön. Die Diagonalmuskeln sind noch erstaunlich frisch. Oben angekommen fühlen sich auch die Doppelstockmuskeln wieder besser. Ein neues Hoch kommt auf. Die Hälfte ist ja schon geschafft.
Der Nachmittag wird richtig sonnig, die Spur ist viel besser als am Morgen, als es eher bruchharstig war und die Stöcke oft durchbrachen. Nur die Abfahrt von Tjåmotis ist nochmals abenteurlich, ein bisschen wie eine schlechte Talabfahrt um halb fünf Abends. In Granudden treffe ich unseren Supporter Nathanael, er verfolgt das Rennen per Liveticker und sagt mir wo die anderen sind. Von da ist es nicht mehr weit zum Kleiderdepot. Ich nehme mir ein Snickers aus dem Sack und die Stirnlampe und gehe gleich weiter. Irgendwann kommt die Dämmerung und bei der Passage beim Start wartet Svens Familie mit Postern und viel Enthusiasmus. Nur noch 20 km und dann ist es geschafft. Ich knippse die Lampe an, doch die scheint nicht wirklich zu funktionieren. Auf Anhalten habe ich keine Lust und mit meinen Überhandschuhen habe ich wenig Gefühl für diesen allzu kleinen Schalter (später werde ich sehen, dass sie auf kleinster Stufe eingestellt ist und in den Himmel zeigt…). Zum Glück hängt sich eine Schwedin mit starker OL-Lampe an meine Fersen und sie leuchtet mir fast den ganzen Weg. Die Abfahrten auf Waldwegen sind nochmals rasant, kurz vor dem Ende taucht noch aus dem Nichts ein 30 cm breiter Querspalt in der Loipe auf: Die Schneebrücke über einen Bach hat nicht gehalten. Die Reflexe funktionieren noch, ein Sprung und ich bin rüber. Langsam sieht man Häuser und Strassen, Jokkmokk kommt näher. Noch eine Runde im Skistadion und das Ziel ist erreicht. Noch nie habe ich mich so auf eine Wolldecke gefreut.
Kurz hinter mir kommt Manu ins Ziel und landet auf dem 8. Gesamtrang bei den Frauen! Die anderen drei laufen zusammen. Beim letzten Kleiderdepot finden sie Steivans Sack nicht mit den warmen Kleidern und Handschuhen und der Stirnlampe. Er kriegt ein paar Leihgaben von den anderen um die letzten 60 km durch die eisige Nacht zu überstehen. Bei den Essensständen haben sie wärmende Feuer und teilweise warmes Essen. Dazwischen ist man aber oft alleine unterwegs, fernab der Zivilisation.
Fazit
Ein Riesenerlebnis im hohen Norden! Die Loipe war teilweise weich, teilweise sehr eisig über die Seen, dann wieder super, vor allem am Nachmittag. Das Wetter zeigte sich auch von allen Seiten: Wolken, Wind, Schnee und Sonne, alles war dabei. Die Essensstände sind gut verteilt und haben eine gute Auswahl: Enervit Riegel und Gels, oft Kanelkringler (Zimtschnecken), Energiedrink, Red Bull, Kaffee etc. Ich ass nur etwa 2-3 eigene Gels und ein eigenes Snickers und 1-2 dl warmes Wasser aus dem Gurt, ansonsten alles von den Essensständen.
Die Nachwehen waren eher klein, wenig tut weh, aber die Erschöpfung sitzt sehr tief. Einige hatten Taubheitsgefühl in den Fingern und Zehen für einige Wochen bis einigen Monaten.
Auf jeden Fall: sehr zu empfehlen, einer der schöneren Läufe den es gibt! Die Landschaft ist einmalig und die Helfer und Helferinnen extrem freundlich und hilfsbereit. Dieses Rennen lässt einem so schnell nicht mehr los.
Übrigens: im 2023 findet das Rennen leider nicht statt, wir drücken die Daumen, dass es 2024 wieder stattfindet!
Links:
Dreiteiliger Dokumentarfilm von SVT (auf schwedisch):
Wikipediaartikel zu Nordenskiöldsloppet (Schwedisch):
Fotos im Content Pool von Red Bull:
Wachsbingo
In den Wochen davor war es eher mild und es hatte wenig Schnee. Es gefror dann alles und es gab am Tag davor noch Neuschnee.
Hier was bei den Selberwachser*innen funktioniert hat:
Beim Gleitwachs vertrauten wir auf den Tipp von Fähndrich Sport in Pontresina: Erst mit Rex Graphit/schwarz wachsen, der ist ganz hart und hält lange. Danach Swix Marathon und noch eine mittlere Struktur. Fertig. Dies hielt gut über 200 km.
Beim Steigwachs entschieden wir uns für Swix Grün als Base, danach ein paar Lagen VP40 (ich lernte einmal die Faustregel: 1 Schicht pro 10 km, die wird hier aber ignoriert). Nach 90 km nachgewachst mit VP55.
Es waren einige Durchstosser dabei, das meiste ist sowieso Doppelstock, aber alles durchstossen ist schon zäh. Sven hat es versucht und hat dann beim Umkehrpunkt kurz vor dem grossen Aufstieg gewachst, er würde es wohl nicht mehr machen. Ein guter klassisch Ski mit Trockenwachs ist für mich immer noch erste Wahl.